Gespräche über das Altern heute

Was heißt schon alt?

„Alt werden ist nichts für Weicheier“, lautet ein geflügeltes Wort. Und in der Tat: Altersarmut,Vereinsamung und Krankheit bestimmen den öffentlichen Diskurs und zeichnen ein dunkles Bild vom Leben nach der Pensionierung. Gerade für jüngere Menschen hat das Älterwerden ein denkbar schlechtes Image. Unser Autor Lukas Herzog hat mit Diddy Crößmann, Daniele Darmstadt, Edith Henss-Sperl, Walter Henss und Hans-Dieter Straßenburg gesprochen und ein völlig neues Bild bekommen vom Alter, von neuen Anfängen und vom Leben nach der Berufstätigkeit.

Das Alter ist eine wunderschöne Lebensphase

„Bin ich alt? Ich fühle mich nicht alt. Alt sein ist eine Frage der Einstellung!“ Davon ist Hans-Dieter Straßenburg (66) überzeugt. Vor sechs Jahren hängte er seinen Nadelstreifenanzug sprichwörtlich an den Nagel und entdeckte sein Leben und seine Umwelt neu. „Ich kann machen, was ich will, wann ich es will.“ Eine neue Freiheit: raus aus dem beruflichen Stress, einem größtenteils fremdbestimmten Tagesablauf, hin zu einem selbstbestimmten Leben und Aufgaben, die man nicht übernimmt, weil man muss, sondern weil man es möchte. Auch Diddy Crößmann (65) weiß die Freiheit sehr zu schätzen, die der neue Lebensabschnitt ihr bietet: „Ich bin in einem tollen Alter! Jetzt kann ich das Leben genießen.“ Den Berufsalltag tauscht sie gegen ausgedehnte Reisen mit ihrem Mann. „Rentner fahren nicht in Urlaub, die verreisen einfach. Keine Urlaubsanträge mehr, einfach losfahren“, meinen auch Edith Henss-Sperl (71) und ihr Mann Walter Henss (79). An die neue Zweisamkeit mussten sich beide erst gewöhnen, Langeweile kommt bei ihnen dafür nicht auf. Für Daniele Darmstadt (61) steht die Rente noch bevor. Sie arbeitet bei der Kreisvolkshochschule Mainz-Bingen und beginnt langsam, über die Zeit nach ihrem Arbeitsleben nachzudenken: „Ich liebe meine Arbeit, aber manchmal wäre es schon schön, etwas reduzieren zu können.“ Langeweile nach der Rente ist auch für sie kein Thema. „Das ist eine wunderschöne Lebensphase. Ich habe tausend Ideen, was ich alles machen möchte.“ Der Sinn im Leben nach der Arbeit Ideen sind wichtig für den Ruhestand.

„Ich brauche auch nach der Rente eine sinnvolle, sinnstiftende Tätigkeit.“

– Daniele Darmstadt

Denn wen die Rente unvorbereitet trifft, dem droht der „Pensionierungsschock“. „Wer vorher viel gemacht hat, macht auch weiterhin viel. Wer vorher nichts gemacht hat, fällt in ein Loch“, beschreibt es Diddy Crößmann. Mit einem Mal sind viele Konstanten des bisherigen Lebens verschwunden – ein geregelter Tagesablauf, soziale Kontakte, für manche gar der Sinn ihrer Existenz. Männer in Führungspositionen haben besonders häufig Probleme. Sie definieren sich hauptsächlich durch die Arbeit. Für viele ist sie nicht nur das halbe, sondern fast das ganze Leben. Für Hobbys oder Freundschaften außerhalb des Kollegenkreises bleibt keine Zeit. „Ein Freund von uns hat nach seiner Pensionierung aus Verzweiflung weitergearbeitet. Er wusste einfach nichts mit sich anzufangen.“ Für Edith Henss-Sperl unvorstellbar, der Terminkalender der Henss-Sperls ist proppenvoll. Beide sind viel unterwegs und gut vernetzt: Gesangverein, Gesellschaftstanz, Weiterbildungen. Es ist eher Unruhe- als Ruhestand. Man müsse bereit sein, weiter zu lernen und immer wieder Neues zu entdecken, weiß Walter Henss. Es sind viele kleine Dinge, die es neu zu entdecken und neu zu regeln gilt. Diddy Crößmann musste nach ihrer Pensionierung erst mal einen neuen Tagesablauf finden. „Mein Mann war schon vor mir in Rente, der hat dann den kompletten Haushalt übernommen. Aber auch ich musste eine neue Struktur für mich finden.“

„Wer sich mit neuen Dingen beschäftigt und bereit ist, Veränderungen mitzumachen, der ist nicht alt.“

– Hans-Dieter Straßenburg

Hans-Dieter Straßenburg übernahm zu Hause die Küche. Doch auch für ihn war die Umstellung gewöhnungsbedürftig: Nach dem ersten ausgedehnten Urlaub stellte sich eine gewisse Ernüchterung ein. „Ich bin die erste Zeit richtig verlottert“, erinnert er sich. Dann brachte er wieder Struktur in seinen Alltag. Irgendwann meinte seine Frau, es gebe ja noch nicht mal einen Drucker im Haus. Dokumente kopieren? Nicht möglich. Also zog Straßenburg los und kaufte ein. Im Berufsleben machten das andere für ihn: „Ich musste mich um diese ganzen Sachen nie kümmern. Mit IT wollte ich nie etwas zu tun haben. Alle wussten das und haben es akzeptiert. Ich habe mich um andere Dinge gekümmert.“ Jetzt aber gibt es niemanden mehr, der Straßenburg den Umgang mit Computer und Internet abnimmt. Mit der Bedienungsanleitung bewaffnet, bekam er alle Geräte ans Netz und wurde neugierig. „Ich wollte wissen, wie das alles funktioniert, das hat mich fasziniert.“ Heute gibt er sein Wissen in Kursen für Ältere weiter.

Zeit für Neudefinitionen

Gerade Partnerschaften und Aufgaben zu Hause müssen im Ruhestand neu definiert werden. Edith Henss-Sperl und Walter Henss waren im Berufsleben nur selten für längere Zeit gemeinsam zu Hause: er für die Deutsche Bahn im ganzen Land unterwegs, sie in politischer Mission auf Empfängen und unzähligen Wochenendterminen. Als sie dann fast zeitgleich in Rente gehen, sind sie plötzlich dauernd zusammen, müssen sich neu kennenlernen – und es kracht gewaltig: „Nach drei Monaten musste ich erst mal allein in Urlaub fahren – sonst hätte ich die Scheidung eingereicht“, erinnert sich Henss-Sperl schmunzelnd. „Unsere Beziehung mussten wir erst mal neu definieren“ – genauso wie viele ihrer sozialen Kontakte, denn die stammten zu großen Teilen aus dem beruflichen Umfeld. „Ich wollte neue soziale Kontakte knüpfen. Und nicht nur mit Senioren“, meint Henss-Sperl. „Ich will ja nicht nur mit alten Schachteln reden!“ „Ich brauche auch nach der Rente eine sinnvolle, sinnstiftende Tätigkeit. Wer das nicht hat, wird früher alt und stirbt auch früher“, ist Daniele Darmstadt überzeugt. Sie denkt deswegen schon jetzt über ihren anstehenden Ruhestand nach – auch wenn der erst in fünf Jahren kommt. Einen sinnvollen, gleitenden Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand möchte Darmstadt erreichen.

„Keinen Urlaub mehr beantragen zu müssen, ist wunderbar. Wir können einfach losfahren, frei sein.“

– Edith Henss-Sperl

Einerseits wäre sie gerne mehr zu Hause, hätte gern mehr Freizeit. „Ich will aber auch noch so vieles in meinem Beruf erreichen, da reicht die Zeit überhaupt nicht.“ Eine Übergangslösung müsste her. „Ich liebe meinen Job, aber ich würde schon gerne etwas kürzertreten, nur noch vier Tage die Woche arbeiten, zum Beispiel.“ Einfach ist das nicht: Die meisten Arbeitgeber sehen solche Lösungen nicht vor – oder sie gehen mit empfindlichen finanziellen Einbußen einher. Doch unabhängig davon ist es wichtig, sich frühzeitig mit dem Ruhestand zu beschäftigen, um die Freiheit danach auch genießen zu können.

Die große Freiheit

Wenn Hans-Dieter Straßenburg heute durch die Mainzer Innenstadt schlendert, dann wundert er sich: „Überall diese hektischen, gestressten jungen Leute im Nadelstreifenanzug. – ‚Darf ich vor? Ich hab’s eilig!‘“ Hektik überall, der Sinn für die Mitmenschen fehlt so manchem. Unweigerlich fragt er sich, ob er selbst so gewesen ist. Seine Frau bleibt diplomatisch: „Manchmal, aber nicht immer“, ist ihre Antwort. Heute stellt sich die Frage nicht mehr. Straßenburg ist entspannter – und weniger fremdbestimmt. „Ich mache meine Termine, wann ich sie möchte. Und wenn das Laub mal einen Tag länger auf der Straße liegt, dann ist das eben so.“ Für Diddy Crößmann ist es vor allem der nachlassende Druck, der die Rente so lebenswert macht. „Man muss nichts mehr erreichen, sich niemandem mehr beweisen. Das ist ein tolle Erfahrung.“ Stattdessen geht es für die Crößmanns viel auf Reisen: USA, Afrika, China. Mit dabei sind immer auch der E-Book-Reader und das Smartphone. „Das hat uns schon sehr oft weitergeholfen, und unsere achtzigjährige Nachbarin freut sich über unsere Urlaubsfotos per WhatsApp“, schmunzelt sie.

„Wer vorher viel gemacht hat, macht auch weiterhin viel. Wer vorher nichts gemacht hat, fällt in ein Loch.“

– Diddy Crößmann

Längere Reisen müssen natürlich gut vorbereitet werden, für kürzere Trips geht es aber wesentlich spontaner zu. Im Berufsleben wäre das nicht möglich gewesen. „Endlich keine Urlaubanträge mehr“, schwärmt Edith Henss-Sperl, „und dann wurde der Urlaub am Ende doch wieder gestrichen.“ Heute streicht niemand mehr den Urlaub und wenn es ihnen gut an einem Ort gefällt, bleiben sie auch mal spontan länger. Natürlich muss man sich diesen Luxus auch leisten können. Die Crößmanns hatten immer mehrere Jobs parallel, um etwas fürs Alter anzusparen. Hans-Dieter Straßenburg hatte einen gut bezahlten, aber stressigen Job. „Irgendwann machte die Gesundheit nicht mehr mit. Ich konnte das einfach nicht mehr“, meint er rückblickend. Inzwischen kann Straßenburg selbst entscheiden, wann es ihm zu viel wird – und rechtzeitig die Reißleine ziehen. Das gilt auch für seine sozialen Kontakte. Selbst entscheiden zu können, mit wem man sich abgibt, wer einem gut tut, empfindet er als eine große Freiheit. „Diskussionen über Krankheiten gibt es bei mir nicht. Das lehne ich ab.“ Straßenburg beendet Gespräche schnell, wenn es auf diese Themen kommt. Das Image Älterer sei immer noch geprägt von „rentner-beiger“ Kleidung und mental abgehängten Menschen.

„Man muss bereit sein, immer weiter zu lernen – lebenslang.“

– Walter Henss

Altern früher und heute

Doch gerade im Vergleich zu früheren Generationen hat sich viel getan. Das Bild vom Altwerden und auch die Bedingungen des Älterwerdens haben sich komplett geändert. „Meine Mutter war mit 60 Jahren eine alte Frau“, stellt Diddy Crößmann fest. „Meine Eltern haben sehr viel härter arbeiten müssen“, weiß auch Daniele Darmstadt. Dementsprechend beeinträchtigt waren sie dann auch im Alter. Samstagsarbeit war üblich, Freizeit spielte eine geringere Rolle und gerade für Frauen waren die Möglichkeiten eingeschränkt. „Mein Abitur und mein Studium musste ich mir noch erkämpfen“, erinnert sich Edith Henss-Sperl. Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, war noch kein Thema. „Ich musste mich entscheiden: Kind oder Karriere?“. Bei ihren Eltern stellte sich diese Frage nicht. Das übliche Bild: Die Frau steht am Herd mit Kittelschürze. Politik, Zeitung lesen, arbeiten gehen: alles Männersache. „Meine Mutter hat nie Radio gehört“, erzählt Walter Henss, „nur Operetten.“ Das Radiohören und Zeitunglesen habe er von Vater und Großvater gelernt. „Die waren auch politisch aktiv und so habe ich mir das auch angeeignet.“

Das Musikvideo „Spark of Life“ vom Verein „Wege aus der Einsamkeit“ zeichnet ein anderes Bild. Es zeigt, wie vielfältig, lebensfroh und aktiv das Alter sein kann.

Diese Zeiten sind vorbei und die Möglichkeiten für Seniorinnen und Senioren andere. Für Hans-Dieter Straßenburg besteht kein Zweifel: Wer sich weiterhin mit Neuem beschäftigt, den Dingen auf den Grund geht, der bleibt länger jung und bekommt ein besseres Gefühl für das eigene Alter. „Wer sich mit neuen Dingen beschäftigt und bereit ist, Veränderungen mitzumachen, der ist nicht alt“ – davon ist er überzeugt. Auch Edith Henss-Sperl appelliert: „Wer sagt, ich bin zu alt für so was, der hat nur eine Ausrede, sich nicht mehr mit etwas beschäftigen zu wollen.“ Zu alt sein, das gebe es nicht. Sie müssen nichts mehr beweisen und bleiben dennoch neugierig – so lässt es sich trotz aller Widrigkeiten entspannt alt werden.

Dieser Artikel gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Datum: 1. April 2019