Vortrag zur digitalen Technologie

„Der gläserne Mensch“

Der folgende Text ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der Rede des Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz, Edgar Wagner, auf dem Symposium „Der Alltag in der digitalen Gesellschaft – Chancen und Risiken“ in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz am 29. November 2014

I. Daten – das Gold des 21. Jahrhunderts

Die digitale Technologie hat in den zurückliegenden Jahren unseren Alltag und unsere Gesellschaft in vielen Bereichen verändert. Nach Lage der Dinge werden die Veränderungen in den kommenden Jahren noch grundlegender und weitreichender sein. Und während diese Prozesse intensiviert werden, gibt es Stimmen, die nach einem „sozial-technologischen Moratorium“, also nach einer Auszeit, rufen, weil die Konsequenzen dieser Entwicklung, die Folgen für unsere Arbeitswelt, für die Autonomie und die Selbstbestimmung der Menschen, auch für unsere humanistischen Werte nicht mehr abzuschätzen seien.

Längst ist das smarte Zeitalter ausgerufen, ist von der smarten Welt die Rede, von Smart Cities und Smart Homes, von Smart Software und eben auch von Smart Data, also von der intelligenten Analyse riesiger Datenmengen. In jeder Minute werden auf Youtube 120 Stunden Videomaterial hochgeladen, 200 Millionen E-Mails versandt, über 2,4 Millionen Suchanfragen an Google übermittelt, 6 Millionen Inhalte auf Facebook geteilt und rund 340.000 Tweets verbreitet. Nach Prognosen wird die verfügbare Datenmenge bis 2020 auf 40 Zettabyte wachsen, das ist eine Vier mit 22 Nullen und entspricht der Textmenge von drei Millionen Büchern pro Erdbewohner.

Daten sind die Rohstoffe unserer Zeit, sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Big Data ist die digitale Übersetzung für Goldrausch und Smart Data der Versuch, mit Hilfe intelligenter Schürfverfahren neue Erkenntnisse und wirtschaftlichen Nutzen aus den angehäuften Datengebirgen zu ziehen.

Damit bin ich bei der Frage angelangt, was die Digitalisierung von Staat und Gesellschaft für die Menschen und ihre Privatsphäre bedeutet und welche Strategien denkbar sind, um die Auswirkungen in Zukunft beherrschen zu können.

II. Die zwei Gesichter der Digitalisierung

Ich will dieser Frage zunächst am Beispiel der sogenannten intelligenten Stromnetze nachgehen. Ihre Aussagekraft gewinnen die hier eingesetzten intelligenten Messgeräte, die Smart Meter, durch die immer weiter voranschreitende Verkürzung der Messintervalle. Der Ableser kommt nicht mehr einmal im Jahr, sondern alle 10 bis 20 Sekunden. Dadurch lassen sich Nutzungsprofile erstellen, die außergewöhnlich aussagekräftig sind: Wie viele Bewohner halten sich in einer Wohnung auf, welche Geräte sind wann in Betrieb? Oder sind eben nicht in Betrieb, weil die Familie offenbar (so die Auswertung der Verbrauchsdaten) für zehn Tage in Urlaub gefahren ist. Dem Vorteil einer potentiellen Energieeinsparung steht der Nachteil der Offenlegung von persönlichen Lebensumständen gegenüber.

Das ist keine neue Erkenntnis, wir kennen die beiden Gesichter der Digitalisierung – die Vor- und die Nachteile – auch von unseren Smartphones. Viele der dortigen Alltagshelfer, die „Apps“, schöpfen auch Daten ab, die sie für ihre Funktionalität überhaupt nicht benötigen.

Manche Nachteile verstecken sich hinter ausgeklügelten und besonders smart erscheinenden Systemen. Das gilt etwa für die sogenannten Telematikboxen, die in Autos eingebaut werden, um das Fahrverhalten von Autofahrern aufzuzeichnen. Aus diesen Daten wird ein Risikoprofil erstellt, das je nach Fahrer zu Auf- oder Abschlägen bei der Kfz-Versicherung führt. In Deutschland ist die Resonanz auf solche Angebote bislang noch schwach, in Italien, Großbritannien und den USA dagegen sehr hoch. Weltweit gibt es derzeit immerhin rund fünf Millionen solcher Versicherungspolicen, bis 2020 werden allerdings über 100 Millionen solcher Vertragsabschlüsse erwartet und damit eben auch über 100 Millionen gläserne Autofahrerinnen und -fahrer – wenn wir nicht rechtzeitig etwas dagegen tun.

Solche Versicherungsmodelle gibt es auch für Lebens- und Krankenversicherungen. Die Versicherungsgruppe Generali beabsichtigt, mit Hilfe einer speziellen App Daten über die Gesundheit, die Fitness, die Ernährung und den Lebensstil ihrer Kundinnen und Kunden zu sammeln, um die Versicherten, die nachweislich einen gesundheitsbewussten Lebenswandel an den Tag legen, mit Reisegutscheinen oder Prämienrabatten zu belohnen. Wer seine Daten nicht preisgeben will, wird dann bestraft. Er erhält einfach nicht die sonst möglichen Gratifikationen.

Dieses System, an dem auch andere Versicherungsunternehmen arbeiten, macht nur scheinbar die einfache Gleichung „gute Leistung gegen gute Daten“ auf. Abgesehen davon, dass auf diesem Wege die so genannten schlechten Risiken ausgesondert werden, stellen sich eine ganze Reihe von Fragen. Wie ist zum Beispiel das Verhalten derer zu bewerten, die eigentlich ihre Daten gar nicht weitergeben wollen, weil sie ihre Privatsphäre zu schonen wünschen, aber aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage auf rabattierte Prämien angewiesen sind? Ist ihre Entscheidung für die Preisgabe ihrer Daten dann noch freiwillig? Und jene, welche besonders gesundheitsbewusst leben, aber trotzdem ihre Daten nicht herausgeben? Werden sie durch Aufschläge bestraft?

Diese und andere Fragen drängen sich geradezu auf. Sie haben einen gemeinsamen Urvater bzw. eine gemeinsame Urmutter: den gemeinen Internetnutzer, der mit den Online-Anbietern eine Absprache getroffen hatte: Ich gebe dir meine Daten und dafür kann ich kostenlos deine Suchmaschine nutzen, in deinem sozialen Netzwerk Mitglied werden oder deine Onlineplattform in Anspruch nehmen. Auf diesem Tauschverhältnis – Onlineangebot gegen persönliche Daten – beruhen weite Teile der Internetnutzung, was dazu geführt hat, dass jeder Klick, jeder Chat, jedes Foto, jede Suche, jeder Post, jede Nachricht gespeichert wird und der jeweiligen Nutzerin bzw. dem jeweiligen Nutzer zugeordnet werden kann.

III. Tod durch Metadaten

Was macht diese exzessive Datenerhebung und Datenspeicherung aus Datenschutzsicht so problematisch? Ein paar Aspekte habe ich Ihnen bereits genannt. Auf zwei, drei weitere will ich noch etwas näher eingehen, vor allem auf die sogenannten Metadaten. Metadaten haben lange ein Leben im Verborgenen geführt. Interessant waren die Kommunikationsinhalte, weniger die vom Inhalt losgelösten Zusatzinformationen, etwa der Zeitpunkt oder die Dauer eines Telefonats.

Aber diese und andere Metadaten haben es in sich. Mit ihrer Hilfe lässt sich nicht nur das kommunikative Umfeld der Absender entschlüsseln, sondern auch ermitteln, welche Themen auf welche Weise gerade kommentiert werden, was wiederum Unternehmen weitgehende Analysen ermöglicht.

Wie zielgenau – im wahrsten Sinne des Wortes – mit solchen Metadaten gearbeitet werden kann, wurde im April 2014 deutlich, als ein Professor für Verfassungsrecht der Johns-Hopkins-University in Baltimore feststellte, dass mit einer ausreichenden Menge an Metadaten die Kommunikationsinhalte praktisch irrelevant werden. Sein Gegenüber Michael Hayden, der Ex-Chef der CIA und der NSA, ließ sich nämlich ganz spontan zu der knappen Feststellung hinreißen: „So ist es, wir töten Menschen aufgrund von Metadaten.“ Man wusste um die Macht der Metadaten zwar spätestens seit den Snowden-Enthüllungen. Aber mit dieser Feststellung Haydens haben die Metadaten endgültig ihre Unschuld verloren.

IV. Verhaltensprognose

Vielen Internetnutzerinnen und -nutzern ist nicht bekannt, dass mithilfe dieser Daten nicht nur Lebensumstände von Personen festgestellt, sondern auch deren Verhaltensweisen und Absichten vorhergesagt werden können. Damit bin ich bei einem weiteren Aspekt, auf den ich noch näher eingehen möchte, der sogenannten prädiktiven Datenanalyse und Verhaltensprognose.

Worum geht es? Im Kern geht es wieder um Big Data. Dessen Datenmengen bestehen aus Einzeldaten, die überwiegend vergangene Sachverhalte beschreiben. Damit lässt sich nicht nur die Vergangenheit erklären, sondern auch die Zukunft prognostizieren, wenn nur die zugrundeliegende Datenmenge groß genug ist. Modellberechnungen wissen dann schneller als wir selbst, was wir wünschen, tun oder denken werden. Es liegt auf der Hand, dass wir auf diese Weise einen Teil unserer Souveränität und unserer Freiheit verlieren.

In 30 Bundesstaaten der USA werden bereits Analysen dazu verwendet, um das Verhalten von Straftätern vorherzusagen. Bei Entscheidungen, ob jemand auf Bewährung freikommt, wird in mehr als 50 Prozent der Fälle auf Computer-Vorhersagen zurückgegriffen, die die Wahrscheinlichkeit berechnen, ob jemand wieder in die Tötung eines Menschen verwickelt sein wird. Es entscheidet also nicht mehr ein Mensch, ob jemand mit Chance auf Besserung freikommt, sondern die statistische Wahrscheinlichkeit, die von der Vergangenheit auf die Zukunft schließt.

„Das Internet vergisst nicht, wir sind die erste Generation, deren Leben digital erfasst wird“, stellte der österreichische Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger 2014 fest. Er erinnerte an den US-amerikanischen Science-Fiction-Thriller „Minority Report“, in dem Menschen aufgrund von Computervorhersagen eingesperrt wurden, obwohl sie mit einem Verbrechen gar nichts zu tun hatten.

Diese Beispiele belegen, dass Eric Schmidt, der Aufsichtsratsvorsitzende von Google, nicht übertrieben hat, als er kürzlich freimütig feststellte: „Wir wissen, wo du bist, wir wissen, wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was du gerade denkst!“ Und als sein Unternehmen in diesem Jahr die US-Haushaltstechnik-Firma Nest erwarb, ergänzte dessen Vorstandsvorsitzender: „Wir wissen auch, ob du zuhause bist und gerade deinen Toast verbrennst.“

Dies ist die Geschichte vom gläsernen Menschen. Und diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, auch deshalb nicht, weil sie noch ein ganz anderes, ebenso problematisches Kapitel hat.

Wir dürfen uns nämlich nicht wundern, dass das Wissen, das Google, Facebook und Co. angesammelt haben, auch den Staat neugierig macht. Ich meine den amerikanischen und den britischen Geheimdienst und deren Schwestereinrichtungen, die im Zusammenhang mit den Enthüllungen Edward Snowdens in Verruf geraten sind, auch deshalb, weil ihnen nachgesagt wird, dass sie kaum eine der vielen rechtlichen Grenzen für staatliche Überwachungsmaßnahmen respektiert hätten.

Ich will auf diesen Vorwurf nicht näher eingehen, auch deshalb nicht, weil er derzeit in einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hinterfragt wird, sondern nur darauf hinaufweisen, dass die zu erwartende Weiterentwicklung des Internet zum Internet der Dinge auch dazu führen wird, dass damit Verhaltensweisen der Menschen in den Blick der Geheimdienste geraten, die bisher noch keinem Überwachungsdruck ausgesetzt waren.

Lassen Sie mich ein Fazit ziehen:

Mehr als jede andere Technologie trägt die digitale Technologie den Schlüssel zur Registrierung, Kontrolle und Überwachung der Menschen in sich. Das Internet und erst recht das im Entstehen begriffene „Internet der Dinge“ bringen deshalb nicht nur Vorteile und Annehmlichkeiten, Innovationen und Wirtschaftswachstum, Bildungschancen und neue Teilhabemöglichkeiten mit sich, sondern begründen auch die Gefahr der gläsernen Verbraucherin und Verbraucher und der gläsernen Bürgerin und Bürger und damit die Gefahr einer Überwachungsgesellschaft und eines Überwachungsstaates. Die digitale Freiheit könnte sich – wenn sie nicht effektiver als bisher geschützt wird – als Chimäre erweisen.

Dieser Artikel gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder. Datum: 18. Februar 2015

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